Es geht aber auch um Sinnhaftigkeit. Was hilft die 72-zigste Reise oder ein weiteres Konsumgut, wenn klar ist, dass es ans Sterben geht. „Wir sterben in den seltensten Fällen einfach mal so nebenbei.“ Kreise, Spiralen sind es, die unser Weg in den Tod aufzeichnet. Mit Sprüngen nach vorn und nach hinten. Mit Versatzstücken und Wiederholungsschleifen. So ist Sterben in der Regel. „Manchmal ist es selbst für Menschen, die viel Erfahrung mit Sterbenden haben, sehr überraschend“, weiß Heidrun Schäfer. Und erzählt einen Fall einer Palliativmedizinerin, der sich ihr sehr eingeprägt hat.
Eine Krankenschwester mit zwei heranwachsenden Kindern erkrankt an Krebs, es geht in die letzte Lebensphase, Heilung ausgeschlossen. Es wird noch palliativ behandelt, so dass Schmerzen und andere beschwerliche Symptome möglichst wenig beeinträchtigen. „Sie konnte körperlich relativ gut leben. Und dann kam das Frühjahr.“ Mit dem aufblühenden Leben draußen und aller Lebendigkeit wurde die Patientin aggressiv. Und forderte: „Geben Sie mir jetzt endlich ein Medikament, ich möchte sterben!“ Eine vehement einklagende Aufforderung zur aktiven Sterbehilfe. „Das war völlig gegengleich. In der Welt sind alle verliebt und diese Frau merkt: Ich muss sterben.“
Spätestens in solchen Momenten ist eine gute palliative ärztliche und pflegerische Versorgung allein nicht mehr ausreichend. „Es ist einfach unfair, wenn man damit allein gelassen wird“, sagt Heidrun Schäfer. „Denn das Wort, das einem hilft, kann sich niemand selbst sagen.“ Hier setzt Seelsorge mit ihrer Begleitung an. Es braucht nicht nur ein Sicherheitsnetz in äußeren Angelegenheiten, auch die Seele möchte versorgt sein. Angehörige können das oft nicht leisten, auch deshalb nicht, weil ihnen eine wesentliche Voraussetzung dafür fehlt. Unvoreingenommenheit nämlich.
„Wo Angehörige vielleicht sagen, ach ja, das Thema schon wieder, Schublade 23, da haben wir als Seelsorgende die große Freiheit, neugierig und offen hinzuhören.“ Menschen können ihre Biografie oder einen Ausschnitt davon, so erzählen, wie sie es für richtig halten. „Wichtig ist Nähe, Freundlichkeit, Interesse. Und dass die Menschen merken, ich will sie nicht in irgendeine Ecke biegen.“
Menschen wollen in ihren So-Sein gesehen werden. „Seelsorge ist wie lebendiges Tagebuchschreiben“, umschreibt es Heidrun Schäfer. Es entsteht ein Miteinander. Das eigene Leben kann noch einmal sortiert werden. „Und in dieses Sortieren am Lebensende gehört auch: Ich bin so geworden, weil das oder jenes mal ganz zentral war in meinem Leben.“ Es kann in den Sterbeprozess integriert werden und das Loslassen erleichtern. Denn Sterben ist ein großes Loslassen.
Hinein in ein neues Leben wie gesagt. Heidrun Schäfer hat dazu ein Bild vor Augen. Aus einem aktuellen Kinderbuch, das ein Bild aus dem Johannes-Evangelium aufnimmt, das Bild der vielen Wohnungen im Hause des Vaters. „Da kommen die Menschen im Himmel an, manche traurig, manche wütend, andere haben noch körperliches Leid“, erzählt die Seelsorgerin. Für jede und jeden gibt es hier einen speziellen Raum, es gibt jemanden, der sich um die gerade Angekommenen kümmert. Alles Leid ist von ihnen genommen, wenn sie diesen ersten Raum wieder verlassen und in den großen Festsaal eintreten. Dort findet sich eine Festtafel, überbordend mit Leckereien gefüllt. Jesus lädt ein zum großen Fest.
„Das klingt für manche Ohren vielleicht sehr fromm. Für mich sind es wunderbare Bilder, die ich auch gern mit Erwachsenen teile.“ Weil nämlich das Wort, das einem hilft, von einer Anderen gesagt werden muss. Weil wir Menschen um uns brauchen, um gehen zu können.
Heidrun Schäfer ist Seelsorgerin im Klinikum Wolfsburg. Die 52-jährige Diakonin ist seit September diesen Jahres auch als Hospizseelsorgerin in Wolfsburg beauftragt.
Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen / Frauke Josuweit