Sterben ist ein großes Loslassen

11. November 2020

Heidrun Schäfer ist Klinik- und Hospizseelsorgerin. In der Klinikseelsorge arbeitet die 52-Jährige bereits seit einem Vierteljahrhundert. „Ich bin mit diesen Themen aufgewachsen, es ist im Grunde ein Erbe meines Vaters“, sagt die Seelsorgerin. Der starb, als Heidrun Schäfer noch Studentin war. „Ich habe damals gelernt, dass es gut ist, wenn auch nur für eine kleine Wegstrecke ein Mensch dabei ist, der glauben kann, dass nach dem Leben auf dieser Erde nicht alles vorbei ist.“

Sterben ist ein Tabuthema. „Wir müssen das enttabuisieren, im Leben bereits miteinander darüber sprechen, wie wir sterben wollen.“ Denn Sterben ist nicht nur hochindividuell, sondern auch sehr intim. „Für mich ist der Tod eine zweite Geburt. In ein neues Leben.“ Es geht dabei um Aufgehobensein. Heidrun Schäfer begleitet schwerstkranke Kinder, einer ihrer Klienten verstarb 12-jährig. Der Junge wurde eingeäschert. „Ich stand an der Urne und dachte: Der Scheiß-Krebs ist jetzt verbrannt. Der ist wirklich weg.“ Es war ein später Sieg über die tödliche Krankheit.

„Der Tod lacht dem Krebs ins Gesicht. Und sagt: Pahhh, das Leben kannst Du mir nehmen, aber es gibt ein neues Leben bei Gott.“ Gerade in der Sterbebegleitung brauche es Menschen, die für sich geklärt haben, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist. Dass es eine Perspektive auf ein neues Leben gibt. „Man kann mit Kindern und Jugendlichen über alles reden, aber erzähl ihnen bloß nichts von einer Sehnsuchtshoffnung, an die Du selbst nicht glaubst. Das werden sie sofort entlarven.“

Es geht aber auch um Sinnhaftigkeit. Was hilft die 72-zigste Reise oder ein weiteres Konsumgut, wenn klar ist, dass es ans Sterben geht. „Wir sterben in den seltensten Fällen einfach mal so nebenbei.“ Kreise, Spiralen sind es, die unser Weg in den Tod aufzeichnet. Mit Sprüngen nach vorn und nach hinten. Mit Versatzstücken und Wiederholungsschleifen. So ist Sterben in der Regel. „Manchmal ist es selbst für Menschen, die viel Erfahrung mit Sterbenden haben, sehr überraschend“, weiß Heidrun Schäfer. Und erzählt einen Fall einer Palliativmedizinerin, der sich ihr sehr eingeprägt hat.

Eine Krankenschwester mit zwei heranwachsenden Kindern erkrankt an Krebs, es geht in die letzte Lebensphase, Heilung ausgeschlossen. Es wird noch palliativ behandelt, so dass Schmerzen und andere beschwerliche Symptome möglichst wenig beeinträchtigen. „Sie konnte körperlich relativ gut leben. Und dann kam das Frühjahr.“ Mit dem aufblühenden Leben draußen und aller Lebendigkeit wurde die Patientin aggressiv. Und forderte: „Geben Sie mir jetzt endlich ein Medikament, ich möchte sterben!“ Eine vehement einklagende Aufforderung zur aktiven Sterbehilfe. „Das war völlig gegengleich. In der Welt sind alle verliebt und diese Frau merkt: Ich muss sterben.“

Spätestens in solchen Momenten ist eine gute palliative ärztliche und pflegerische Versorgung allein nicht mehr ausreichend. „Es ist einfach unfair, wenn man damit allein gelassen wird“, sagt Heidrun Schäfer. „Denn das Wort, das einem hilft, kann sich niemand selbst sagen.“ Hier setzt Seelsorge mit ihrer Begleitung an. Es braucht nicht nur ein Sicherheitsnetz in äußeren Angelegenheiten, auch die Seele möchte versorgt sein. Angehörige können das oft nicht leisten, auch deshalb nicht, weil ihnen eine wesentliche Voraussetzung dafür fehlt. Unvoreingenommenheit nämlich.

„Wo Angehörige vielleicht sagen, ach ja, das Thema schon wieder, Schublade 23, da haben wir als Seelsorgende die große Freiheit, neugierig und offen hinzuhören.“ Menschen können ihre Biografie oder einen Ausschnitt davon, so erzählen, wie sie es für richtig halten. „Wichtig ist Nähe, Freundlichkeit, Interesse. Und dass die Menschen merken, ich will sie nicht in irgendeine Ecke biegen.“

Menschen wollen in ihren So-Sein gesehen werden. „Seelsorge ist wie lebendiges Tagebuchschreiben“, umschreibt es Heidrun Schäfer. Es entsteht ein Miteinander. Das eigene Leben kann noch einmal sortiert werden. „Und in dieses Sortieren am Lebensende gehört auch: Ich bin so geworden, weil das oder jenes mal ganz zentral war in meinem Leben.“ Es kann in den Sterbeprozess integriert werden und das Loslassen erleichtern. Denn Sterben ist ein großes Loslassen.

Hinein in ein neues Leben wie gesagt. Heidrun Schäfer hat dazu ein Bild vor Augen. Aus einem aktuellen Kinderbuch, das ein Bild aus dem Johannes-Evangelium aufnimmt, das Bild der vielen Wohnungen im Hause des Vaters. „Da kommen die Menschen im Himmel an, manche traurig, manche wütend, andere haben noch körperliches Leid“, erzählt die Seelsorgerin. Für jede und jeden gibt es hier einen speziellen Raum, es gibt jemanden, der sich um die gerade Angekommenen kümmert. Alles Leid ist von ihnen genommen, wenn sie diesen ersten Raum wieder verlassen und in den großen Festsaal eintreten. Dort findet sich eine Festtafel, überbordend mit Leckereien gefüllt. Jesus lädt ein zum großen Fest.

„Das klingt für manche Ohren vielleicht sehr fromm. Für mich sind es wunderbare Bilder, die ich auch gern mit Erwachsenen teile.“ Weil nämlich das Wort, das einem hilft, von einer Anderen gesagt werden muss. Weil wir Menschen um uns brauchen, um gehen zu können.

Heidrun Schäfer ist Seelsorgerin im Klinikum Wolfsburg. Die 52-jährige Diakonin ist seit September diesen Jahres auch als Hospizseelsorgerin in Wolfsburg beauftragt.

Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen / Frauke Josuweit

... Menschen - Themen - Orte

Lesetipps

Was am Ende wichtig ist – Geschichten vom Sterben
Petra Anwar und John von Düffel, Piper Verlag 2014
Die Patienten, die Petra Anwar besucht, haben keine Aussicht auf Heilung. Und doch ist diese letzte gemeinsame Zeit für Sterbende und ihre Angehörigen eine besonders kostbare. Gemeinsam mit dem Schriftsteller John von Düffel erzählt Petra Anwar zwölf wahre Geschichten vom Sterben.

 

Ich habe jetzt die gleiche Frisur wie Opa - Wie kranke Kinder und Jugendliche das Leben sehen
Kathrin Feldhaus und Margarethe Mehring-Fuchs, Patmos Verlag 2014
„Mein größter Wunsch ist, in die Schule zu gehen und zwei Stunden Matheunterricht zu haben. Das ist doch komisch, dass ich mich jetzt nach Dingen sehne, die ich vorher Scheiße fand." Sevval ist 16 und schwer krank, wie alle Kinder und Jugendlichen, die in diesem besonderen Buch zu Wort kommen.

Diakonin Heidrun Schäfer
Sauerbruchstraße 7
38440 Wolfsburg
Tel.: 05361 80 1456
Fax: 05361 80 1412