Zum 1. September geht Gunter Schuller, Leiter der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle des Kirchenkreises Wolfsburg-Wittingen, in den Ruhestand. Auf den Tag genau nach 31 Jahren. „Für mich war ausschlaggebend, dass die Arbeit in Wolfsburg viele Entscheidungsfreiheiten geboten hat und ich hier wirklich etwas bewirken konnte.“
Waren es Anfang der 1990er Jahre etwa 100 Neuanmeldungen von Beratungssuchenden, so kommen mittlerweile jährlich mehr als 800 neue Klientinnen und Klienten. „Immer mehr Menschen kommen nicht mit einzelnen Problemen, sondern mit großen Baustellen zu uns.“ Eine Entwicklung, die zwar nicht hochdramatisch sei, aber über die Jahre doch stetig zugenommen habe, sagt der Psychoanalytiker Schuller. „Ich erlebe immer wieder, dass es Menschen schwerfällt, ihre inneren Konflikte wahrzunehmen oder in Worte zu fassen.“
Pragmatisch und multiprofessionell
Die Fähigkeit der Selbstreflexion und der Selbstregulation sei eingeschränkt, das wirke sich auf die Steuerung von Gefühlen und Affekten aus. „Ganz normale Konflikte, die das Leben mit sich bringt, können dann nicht gut gehandhabt werden.“ Streit eskaliere schneller, Alltagsangelegenheiten blieben unerledigt. Hier helfe die Ehe- und Lebensberatung oft auch ganz pragmatisch und im multiprofessionellen Ansatz in Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen.
Die Klientel der Lebensberatungsstelle des Kirchenkreises entspricht einem Querschnitt durch die Bevölkerung, berichtet Gunter Schuller. „Es kommen Menschen, die staatliche Hilfsleistungen erhalten, es kommen Durchschnittsverdienende und es kommen auch Besserverdienende zu uns.“ Das unterscheide Wolfsburg von anderen Städten. „Die Wechselwirkungen sozio-ökonomischer und subjektiver Faktoren werden bei uns wie im Brennglas sichtbar, oft früher als anderswo.“ Das liegt an der Monostruktur, meint Schuller, mit Volkswagen als Hauptarbeitgeber einer Stadt, die es ohne den Automobilhersteller nie gegeben hätte.
Biografisch ungeplant, vor der eigenen inneren Zeit
Anfang der 1990er Jahre führte VW in einer Krise Vorruhestandsregelungen ein. Mehrere Jahrgänge wurden gleichzeitig in den Vorruhestand geschickt. Man wollte nicht kündigen, um zu sanieren. „Es kamen Menschen zu uns, die noch nicht einmal 55 Jahre alt waren und in den Ruhestand geschickt wurden. Biographisch ungeplant, plötzlich, vor der eigenen inneren Zeit.“ Die Menschen hätten sich neu definieren müssen, Identitätskrisen und Depressionen habe es gegeben, gerade bei Betroffenen aus dem mittleren Management, die von 100 auf Null gefahren wurden. „Ich erinnere mich an jemanden, der sagte: Ich habe erstmal ausgeschlafen. Dann bin ich eine Zeitlang in der Gegend rumgefahren. Und dann habe Klavier gespielt. Aber immer nur Klavier spielen, das befriedigt mich nicht.“
Als wenige Jahre später die ‚atmende Fabrik‘ eingeführt wurde und mit ihr neue Arbeitszeitmodelle, bei denen die Mitarbeitenden ihre Arbeitszeit an die Auftragslage anpassen, wirkte es wieder bis in die Familien hinein. Die Menschen hätten ihre Arbeit nicht verloren, erinnert sich Schuller, die Arbeitszeitverkürzungen hätten die Väter in die Familien zurückgebracht, denn sie hatten mehr Zeit für ihre Kinder. „Das hat auch zu Problemen geführt, aber die waren lösbar. Nach und nach haben die Menschen das für sich nutzen können, auf Dauer gesehen hat es sich positiv ausgewirkt.“
"Am Anfang wollte ich, dass sich schnell etwas verändert"
Dauer oder auch Zeit ist ein Faktor, der nicht nur für die Klienten wichtig ist. Auch Schuller selbst hat im Laufe der Jahrzehnte dessen Bedeutung erfahren. „Ich bin gelassener und geduldiger geworden mit den Klienten, am Anfang wollte ich, dass sich schnell etwas verändert. Ich habe gelernt, dass das nicht geht.“ Alle Störungen, Belastungen, ungelösten Konflikte, die wir mit uns herumtragen, entstehen innerhalb von Beziehungen, häufig in der Kindheit oder Jugend, erklärt er.
„Das kann man nicht in einem Jahr ändern. Dafür braucht man Zeit.“ Gelernt werde Veränderung in der therapeutischen Beziehung. „Ich weiß nicht besser als andere, wie das Leben geht. Ich weiß nur besser als andere, wie ich mit bestimmten Haltungen und Methoden andere darin unterstützen kann, ihren Weg zu finden.“
Der Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker Schuller begann seine Tätigkeit in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung am 1. September 1989, der damals 34jährige kam nach Studium und ersten Berufsjahren von Berlin nach Wolfsburg. Schuller leitete seit Sommer 1993 die Ehe-, Familien- und Lebensberatung.
Der gebürtige Siebenbürger hat eine Ausbildung am Berliner Institut für Systemisch-Integrative Therapie und eine Ausbildung zum Psychoanalytiker am Lehrinstitut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Hannover abgeschlossen. Er war seit Beginn der 1990er Jahre Mitglied des Seelsorge- und Beratungsausschusses im Kirchenkreis, viele Jahre davon als Vorsitzender. Schuller war auch langjähriges Mitglied des Kirchenkreistages. Seine Praxis als niedergelassener Psychoanalytiker in Wolfsburg will er auch im Ruhestand weiterführen.
Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen / Öffentlichkeitsarbeit