Ehemaliger Landessuperintendent Hans-Hermann Jantzen wird 80
Es gibt Menschen, die gehen mit der Zeit. Und es gibt Menschen, die ihrer Zeit voraus sind. Hans-Hermann Jantzen, ehemaliger Landessuperintendent im Sprengel Lüneburg, gehört eher zur zweiten Kategorie. Wer mit ihm spricht, spürt schnell: Dieser Mann hat nicht nur die Geschichte der hannoverschen Landeskirche in den letzten Jahrzehnten miterlebt, sondern sie an entscheidenden Stellen auch mitgestaltet – kritisch, zugewandt, und immer mit dem Blick auf die Menschen.
Am 28. September hat Jantzen seinen 80. Geburtstag gefeiert. Anlass genug, auf ein außergewöhnliches Leben zurückzublicken – ein Leben, das Theologie, Gesellschaft und persönliche Haltung eng miteinander verband. Er war Pfadfinderführer und Pfarrer, Studienleiter und Landessuperintendent, kurzfristig sogar Bischofsvikar. Und immer wieder war er Seelsorger und Gestalter zugleich.
„Bei den Menschen bleiben“
Als Sohn eines Superintendenten war er hineingewachsen in das kirchliche Leben. Doch schon früh war klar, dass er die Dinge anders machen wollte. „Ich wollte alles anders machen als mein Vater“, sagt er und lacht. Langeweile in Gottesdiensten? Nicht mit ihm. Schon in seinen ersten Gemeinden setzte er auf Kinder und Familien – und begann damit eine Spur zu ziehen, die ihn sein Leben lang begleitet hat: Kirche soll lebendig sein, nahe bei den Menschen, offen für neue Wege.
Später, in seinen ersten Gemeinden, sollte er Wort halten. Familiengottesdienste, Kindergottesdienste, kreative Formen – das waren für ihn nicht nur Programmelemente, sondern Ausdruck seines Verständnisses von Kirche: Sie sollte Menschen erreichen, sie begeistern und ihnen Freude schenken. Dass Kinder lachend in die Kirche kamen und Eltern sagten: „Jetzt haben wir endlich verstanden, worum es geht“, war für ihn Bestätigung und Auftrag zugleich.
Frühe Verantwortung: Der Pfadfinderleiter
Doch die Grundlagen seines Führungsstils wurden schon viel früher gelegt. Mit 15 Jahren übernahm er die Leitung der örtlichen Pfadfindergruppe, weil der Stammesführer wegzog. Vier Jahre lang leitete er die Gruppe – und entdeckte dabei, dass ihm Verantwortung lag. „Ich habe gelernt, dass man nicht autoritär auftreten muss, sondern dass es besser ist, wenn alle mitreden können.“ Dieses Verständnis von Führung – partizipativ, dialogorientiert, respektvoll – sollte ihn prägen und später sein Handeln als Gemeindepastor und Kirchenleiter bestimmen.
Studium, Vikariat und die Suche nach einem eigenen Weg
Das Theologiestudium war für Jantzen fast vorgezeichnet: Latein, Griechisch und Hebräisch am Gymnasium in Stade führten nahtlos zum Theologiestudium. In der Oberstufe hatte er zwar kurz überlegt, Lehrer zu werden – doch es blieb beim Gedanken. „Im Grunde habe ich dann ja doch ein Stück weit gelehrt, später als Studienleiter“, sagt er rückblickend.
Das Vikariat erwies sich als glückliche Fügung. Sein Vikariatsleiter Walter Wiese war Vorsitzender im Kindergottesdienstverband der EKD und selbst voller Begeisterung für Kinderarbeit. Jantzen fand damit ein Vorbild, das seine Leidenschaft für neue Gottesdienstformen bestärkte. Schon in Lehrte, seiner ersten Gemeinde, explodierte förmlich der Kindergottesdienst, wie er erzählt. Elternkreise entstanden, Gesprächsgruppen für Familien – die Gemeinde lebte auf.
Die ersten Gemeinden: Kirche für Kinder und Eltern
Was Jantzen dort begann, war mehr als eine Nischenarbeit. Er verstand Kinder- und Familiengottesdienste als Kernaufgabe der Kirche. „Da habe ich gemerkt, wie sehr Kirche Menschen erreichen kann, wenn sie verständlich und einladend ist.“ Eltern, die längst innerlich mit der Kirche abgeschlossen hatten, fanden über ihre Kinder wieder Zugang. Für Jantzen war das eine Erfahrung, die er nie vergessen sollte – und die er später in Seminaren und Schulungen weitergab.
Als Studienleiter am Predigerseminar in Hildesheim entwickelte er Modelle für lebendige Gemeindearbeit. Immer wieder stand dabei die Frage im Zentrum: Wie können Gemeinden so gestaltet werden, dass sie Menschen nicht nur verwalten, sondern begeistern?
Kirche und Gesellschaft: Der Pastor als streitbarer Bürger
Doch Jantzen war nie nur Binnenmann der Kirche. Ihn trieben immer auch gesellschaftliche Fragen um. In den 1970er-Jahren, als die Ölkrise die Republik erschütterte, organisierte er Seminare zu Umwelt- und Energiefragen – auch gegen Atomkraft. Das führte zu spannungsreichen Diskussionen, etwa mit einem Physiker aus seinem Kirchenvorstand, der im Bundesamt arbeitete und ganz andere Ansichten vertrat. „Wir hatten konträre Meinungen, aber wir konnten respektvoll miteinander umgehen.“ Für Jantzen ist das bis heute ein Schlüssel: Streit aushalten, aber im Gespräch bleiben.
Lüneburger Landessuperintendent: Zwischen Castor und Konsolidierung
1997 wurde Hans-Hermann Jantzen Landessuperintendent im Sprengel Lüneburg – und trat damit in eine Zeit voller Spannungen. Die Castor-Transporte ins Wendland sorgten für massive Proteste. Die Kirchen waren gespalten: Einige engagierten sich gegen Atomkraft, andere hielten sich zurück. Jantzen entschied sich klar: Er besuchte als erstes den Kirchenkreis Dannenberg, hörte zu, stärkte den Protestierenden den Rücken – und stand bei Demonstrationen an ihrer Seite. Bis heute hält er zweimal im Jahr das „Gorlebener Gebet“.
Doch nicht nur Atompolitik forderte ihn heraus. Die Kirche selbst stand unter Druck. Stellen mussten gestrichen, Gemeinden zusammengelegt werden. Jantzen führte viele schwierige Gespräche mit Kirchenvorständen, die nicht verstehen wollten, warum plötzlich ganze Pfarrstellen verschwanden. „Das war eine harte Zeit“, erinnert er sich.
Mut zur Vielfalt: Der Einsatz für homosexuelle Pastor:innen
Ein zweites großes Feld waren Fragen der Vielfalt und Inklusion. Jantzen setzte sich früh für die volle Gleichstellung homosexueller Pastorinnen und Pastoren ein. Im Kirchenvorstand einer konservativ geprägten Gemeinde erlebte er, wie überraschend offen manche Ehrenamtliche waren. „Die Kirchenvorstände waren oft weiter als die Kirchenleitung“, sagt er. Für ihn war das ein wichtiges Signal: Veränderung kommt nicht nur von oben, sondern auch aus der Basis.
In den Auseinandersetzungen mit Bischof Horst Hirschler, der homosexuelle Pfarrer nicht auf Gemeindepfarrstellen sehen wollte, bewies Jantzen Haltung. Konflikte scheute er nicht – und blieb doch im Gespräch. Später, als die Kirche immer offener wurde, sah er sich in seinem Einsatz bestätigt.
Zwischen Politik und Seelsorge: Der Landessuperintendent als Moderator
Neben den großen gesellschaftlichen Fragen kümmerte sich Jantzen auch um konkrete Herausforderungen vor Ort. Er gründete runde Tische zur Jugendkriminalität, engagierte sich in Präventionsarbeit und verstand seinen Auftrag stets doppelt: Kirche müsse Menschen in ihrem Alltag begleiten, aber auch gesellschaftliche Impulse setzen. „Kirche muss politisch sein“, sagt er bis heute. Dabei ging es ihm nie um parteipolitische Schlagseite, sondern um klare Orientierung aus dem Glauben heraus.
Ein Beispiel: „Für mich ist es unerträglich, wenn beim Bürgergeld gekürzt wird und die Erbschaftssteuer nicht angefasst wird. (…) Diese ungerechte Vermögensverteilung und die Fokussierung immer auf die Ärmsten der Armen – das ist für mich eine ganz große Dissonanz.“
Die Ausnahmesituation: Bischofsvikar nach Käßmanns Rücktritt
2010 kam die wohl unerwarteste Aufgabe seines Lebens. Nach dem Rücktritt von Landesbischöfin Margot Käßmann musste Jantzen kommissarisch die Leitung der Landeskirche übernehmen. „Ich hatte weiche Knie“, sagt er. Doch er erlebte die Zusammenarbeit mit dem Landeskirchenamt als solidarisch und entlastend. Besonders prägend waren für ihn große Gottesdienste, etwa gegen Rechtsextremismus in Bad Nenndorf. Seine Botschaft: Respektvoll miteinander umgehen, die eigene Meinung klar vertreten, aber auch die Perspektive des anderen ernst nehmen.
Ein wandelndes Gottesbild
Theologisch hat Jantzen eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Als Jugendlicher noch geprägt von einem stark personalen Gottesbild, das evangelikale Missionare wie Klaus Vollmer (dessen Wirken inzwischen aufgrund des Wissens um Ausübung sexualisierter Gewalt einer Neubewertung unterzogen wurde) vertraten, veränderte sich sein Verständnis über die Jahre. „Für mich ist Gott heute Energie, Hoffnung, Quelle des Lebens“, sagt er. Das sei abstrakter, aber nicht weniger persönlich. Er betont: „Ich bin fromm – aber auf andere Weise.“ Offenheit für verschiedene Frömmigkeitsstile prägt seine Haltung bis heute.
Partnerschaft und Familie: Ein Leben auf Augenhöhe
Auch privat hat Jantzen Wege beschritten, die nicht selbstverständlich waren. Seine Frau ist Zahnärztin – in den 1970er-Jahren noch eine Seltenheit. Manche Kirchenvorstände wunderten sich, dass die Pfarrfrau nicht selbstverständlich die Katechetin gab. Doch für Jantzen war es bereichernd, dass seine Frau ihr eigenes berufliches Feld hatte. „Sie hat manches infrage gestellt, das war gut für mich“, erzählt er. Gemeinsam fanden beide Wege, Beruf und Familie zu verbinden, ohne traditionelle Rollenmuster einfach zu übernehmen.
Blick in die Zukunft: Kirche als klarer Akteur
Heute, im Ruhestand, blickt Jantzen mit klarem Blick auf die Entwicklungen in der Kirche. Der Bedeutungsverlust schmerzt ihn, doch er sieht auch Chancen: „Wenn man nicht mehr ein so großer Player ist, kann man die Botschaft klarer herausstellen.“ Vor allem Klimaschutz, Migration und soziale Gerechtigkeit sind für ihn Themen, bei denen Kirche Position beziehen muss. Kirche müsse deutlicher werden, auch wenn das manchen unbequem erscheint.
Sein Rat an junge Pastor:innen: Vertrauen in Gott, Kreativität in der Gestaltung von Gottesdiensten, und vor allem Nähe zu den Menschen. „Bei den Menschen bleiben – das ist das Wichtigste.“
Von Ruhe kann bei Jantzen keine Rede sein. Er singt in der St.-Johanniskantorei in Lüneburg, nimmt an großen Oratorienaufführungen teil und ist dankbar, dass seine Stimme mit 80 Jahren noch trägt. Außerdem liebt er das Radfahren: Mit seiner Frau unternimmt er jedes Jahr längere Touren, zuletzt vier Wochen durch Holland, mit Tagesetappen von 40 bis 60 Kilometern. „Das hält fit und ist einfach schön“, sagt er.
Sprengel Lüneburg / Anne-Katrin Schwanitz