Stille ist das, was uns Sorgen macht

24. März 2021
Foto: Engin Akyurt - Pixabay.com
Foto: Engin Akyurt - Pixabay.com

Notfallseelsorger Johannes Thormeier erzählt aus seiner Arbeit

Hilfe für die Seele bei schweren Schicksalsschlägen, in Unglücksfällen, bei Katastrophen – das ist die Aufgabe von Notfallseelsorge. Corona hat fast alles verändert, auch diesen Arbeitsbereich der Kirche. Das zeigen nicht nur die aktuellen Einsatzstatistiken für 2020, das berichtet auch Pastor Johannes Thormeier. „Die Einsätze wurden auf ein Minimum reduziert, um die Einsatzkräfte zu schützen.“

Thormeier ist normalerweise regelmäßig bei der Feuerwehr, bei denen, die als Erste zu Hilfe gerufen werden, wenn‘s brennt oder ein Unfallopfer zu bergen ist. Als Notfallseelsorge- Koordinator im Süden des Kirchenkreises besucht er die Einsatzkräfte, hält Kontakt, pflegt die Beziehungen zur Berufsfeuerwehr. Das geht im Lockdown nicht, es dürfen nur noch offizielle Einsatzkräfte auf die Wache. „Gerade weil wir die Einsatzkräfte schützen wollen, ist die Einsatznachsorge für Helferinnen und Helfer viel schwieriger geworden.“

Dabei hinterlassen belastende Einsätze ihre Spuren auch bei den Retterinnen und Rettern. „Ein Sanitäter, der ein verbranntes Kind in den Armen hält, ist sehr viel stärker berührt als ich, der ich weiß, dass ein Kind aus dem Feuer gerettet wurde.“ Die schwierigsten Situationen für Helfende sind aber solche, in denen sie nichts tun können. Wenn zum Bergen von Kindern und Erwachsenen noch die Gerätschaften fehlen, wie nach dem Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall vor 15 Jahren.

Seelsorgende haben dann immer noch die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen oder Gespräche zu initiieren. „Aber die Einsatzkräfte sind abgestellt, sichern beispielsweise bestimmte Bereiche. Und die stehen dann da.“ Sie dürfen nicht handeln, erleben aber das Einsatzgeschehen mit. In Bad Reichenhall haben das nicht alle ausgehalten. „Die Belastung war so groß, dass sich Einsatzkräfte selbständig gemacht haben, um Kinder unter den Trümmern zu suchen.“

Nicht handeln können oder dürfen kann zu Belastungen führen. Auch das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, kann nachhaltig wirken. Als durch einen nächtlichen Unfall ein junger Mopedfahrer zu Tode kommt, werden die Notfallseelsorger gerufen. Sie sollen den Eltern die Todes-Nachricht überbringen. „Der verunglückte Junge war aber gar nicht der, für den man ihn hielt, denn er trug nicht die eigene Jacke und fuhr auch nicht das eigene Mofa.“

Für die Notfallseelsorge hat dieser Einsatz damals strukturelle Veränderungen bewirkt. „Wir haben eine zweite Ebene eingezogen, wir arbeiten jetzt wie Feuerwehr und Polizei mit einer Art internen Leitstelle.“ Feuerwehr und Polizei benachrichtigen im Notfall Johannes Thormeier und die Ehrenamtliche Hannelore Seeleke, diese beiden informieren die jeweils diensthabenden Seelsorger:innen. Sechs mal 24 Stunden im Quartal muss jede Pastorin und jeder Pastor im Kirchenkreis diesen Dienst übernehmen, auch zwölf halbe Tage sind möglich. „Bei größeren Einsätzen, wie bei einem größeren Brand, rufe ich alle an, egal ob die gerade Dienst haben oder nicht.“ Wer dann ans Telefon geht, muss losfahren.

Ausgebildet sind alle für diese Arbeit, die Pastor:innen gemeinsam mit Diakon:innen und Ehrenamtlichen versehen. Nach dem Zugunglück in Eschede 1998 wurde die Notfallseelsorge als flächendeckendes Angebot aufgebaut. „Notfallseelsorge als Angebot gab es auch schon vorher, die Polizei hat direkt bei den zuständigen Pfarrämtern geklingelt oder die Feuerwehr hat beim Pfarrer angerufen“, erklärt Johannes Thormeier. „Damals aber war eine ganze Region betroffen, denn die Einsatzkräfte kamen aus der Region und diese mussten begleitet werden mit der Einsatznachsorge.“

Das Angebot ist ökumenisch, in der Stadt Wolfsburg und im Süden sind auch das Katholische Dekanat Wolfsburg-Helmstedt und zwei Propsteien – Vorsfelde und Königslutter – der braunschweigischen Landeskirche engagiert. Thormeier selbst ist seit 1998 Notfallseelsorger, sei 2013 verantwortlich für den Wolfsburger Bereich, der sich im Süden bis Helmstedt und Königslutter erstreckt und im Norden bis Jembke und Weyhausen. Er hat die Entwicklungen über mehr als zwei Jahrzehnte miterlebt. „Nach Eschede haben Kirchen und Hilfsorganisationen verabredet, was überhaupt unter sachgemäßen Notfallseelsorge zu verstehen ist.“ Grundstandards wurden entwickelt, Ausbildungen konzipiert und initiiert.

Der häufigste Einsatz für die Seelsorgenden sei der häusliche Todesfall, sagt Thormeier. Wesentlich schwieriger wird es, sobald Kinder involviert sind. „Kinder werden oft übersehen. Wenn Kinder ganz still sind, denken die Erwachsenen oft: Gut, dass er jetzt nicht weint, das könnte ich vielleicht gar nicht aushalten.“ Es gibt bestimmte Zeitfenster, innerhalb derer man hofft, posttraumatische Belastungsstörungen verhindern zu können. In denen die Seelsorger:innen helfen können, Worte für das Erlebte zu finden, damit etwas in Bewegung kommt, auch im inneren Erleben, im Verarbeiten des Erlebten. „Stille ist das, was uns Sorgen macht.“

Hilfe, Worte zu finden, brauchen manchmal auch die Tröster:innen selbst. „Man ist nicht immer gleich. Manches hinterlässt Spuren, Fragen. Oder auch eine tiefe Traurigkeit.“ Denn auch Seelsorgende sind aus Fleisch und Blut. Vor Jahren wurde Thormeier zu einer Familie gerufen, eines der Kinder hatte sich an einem Stück Pfannkuchen verschluckt. „Es drohte zu ersticken.“ Thormeier begleitete die Eltern. Das Kind verstarb. „Für mich ist das Gebet ein Ort, wo ich das alles lasse.“ Auch kollegiale Gespräche helfen, Notfallseelsorgende werden durch Supervision begleitet. „Dort kann ich über das sprechen, was mich mitgenommen hat, was mich traurig gemacht hat.“

Nicht immer allerdings ist das Unterstützungsangebot der Kirchen willkommen. „Mein eindrücklichstes Erlebnis war der Tod eines 42-Jährigen. ‚Kannst Du ihn wieder lebendig machen?‘, fragte seine Lebenspartnerin. Ich sage: Nein. ‚Dann hau ab Du Arsch!‘“ Aggressionen und Verzweiflung der Betroffenen seien der Situation geschuldet. Nicht immer allerdings reicht professionelle Selbstfürsorge, um sich vor emotionaler Überflutung zu schützen.

Und auch nicht immer sind die häuslichen Todesfälle die einfachsten Einsätze. Ein Mann Anfang 50 starb in der eigenen, völlig verwahrlosten Wohnung. „Den Geruch bin ich lange nicht losgeworden.“ Nebenan wohnte der Bruder des Verstorbenen und hatte nichts bemerkt. „Ich war fassungslos. Ich bin jetzt noch fassungslos.“

Hoffnung wecken ist eines der Ziele der Notfallseelsorge. „Meine Aufgabe ist: Hören, was der Mensch braucht. Und was die Menschen brauchen, versuche ich zu geben.“ Manchmal sei das reine Krisenintervention, manchmal aber auch eine rituelle Handlung wie ein gemeinsames Gebet oder auch eine Aussegnung. „Unser Auftrag ist, bei den Menschen zu sein“, sagt Johannes Thormeier. „Das ist mein Motiv für diese Arbeit.“

Frauke Josuweit / Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen

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Johannes Thormeier
Pastor Johannes Thormeier
38440 Wolfsburg

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