Frank Breust geht in den Ruhestand
Soziale Arbeit ist ein Job ganz nah am Menschen, meistens dort, wo es nicht glatt läuft, wo man mehr verstecken als vorzeigen möchte. „Da stehst Du immer mit einem Bein im Knast als Sozialarbeiter“, sagt Frank Breust. 36 Jahre lang hat er nicht nur ausgehalten, sondern geradezu mit Leib und Seele gelebt. Jetzt sagt der 65-Jährige „Tschüss Kirchenkreis!“ und: „Es war eine tolle Arbeit hier!“
Familiäre Gründe waren es, die Frank Breust und seine Frau 1987 nach Wittingen führten. Aufgewachsen in Peine wollten sie nach ersten Berufsjahren in Schleswig-Holstein wieder näher an die Heimat heran. Zwei Stellen gab es damals für den jungen Sozialarbeiter, der sein gesamtes Berufsleben für die evangelische Kirche arbeiten wird: Stolzenau-Loccum und Wittingen.
Als Breust mit Frau und kleiner Tochter nach Wittingen zieht, war alles noch nah beieinander: Das Kirchenamt auf der anderen Straßenseite, der Garten wird gemeinsam mit dem Superintendenten genutzt, man spielt Samstagsnachmittags gemeinsam Fußball. „Wittingen und meine Vorstellungen von ganzheitlicher, sozialdiakonischer Arbeit, das hat einfach gepasst. Ich konnte schalten und walten, wie ich es für richtig hielt, meine Arbeit nach den Bedarfen hier im Nordkreis ausrichten.“ Vorgaben gab es nicht, die Kirche in den 1980er Jahren bestand aus Verkündigung und Seelsorge. Diakonische Sozialarbeit hatte keinen Platz.
Konservativ ging es zu in Wittingen, erinnert sich Breust. Männer und Frauen getrennt im Gottesdienst, das gab es beispielsweise noch in den 1980er Jahren. Wittingen war Zonenrandgebiet, keine fünf Kilometer sind es bis nach Waddekath in Sachsen-Anhalt. „Ab Steinhorst ging es über Kopfsteinpflaster. Nach Brome runter bist Du immer am Zaun, an der Grenze lang gefahren“, erinnert sich Breust. Für diejenigen, die sich nicht auskennen: Gut 25 Kilometer fährt man von Steinhorst bis in die Stadt Wittingen. Die innerdeutschen Grenzanlagen waren an 365 Tagen 24 Stunden lang beleuchtet. „Als wir mittags um 12 Uhr ankamen, hat sich hier niemand bewegt.“ Mittagstunde. Bis 14.30 Uhr.
Wenn's am Wochenende gebrannt hat
Dicke Bretter bohrt Frank Breust, um zu zeigen, wie wichtig Kirchenkreissozialarbeit ist, um den Gemeinden klarzumachen, welche Vorteile sie davon haben. Durchwanderer kamen damals zu den Pastoren mit ihren Bedürfnissen nach Geld, Essen und Übernachtungsmöglichkeiten. „Wenn’s gebrannt hat, haben die bei mir zuhause angerufen, auch am Wochenende.“ Für Frank Breust war es selbstverständlich, da mitzugehen. Arbeitszeiterfassung gab es nicht, das lief auf Vertrauensbasis. Seine Frau Anke und auch die drei Töchter ziehen mit. „Hätte ich diesen familiären Background nicht gehabt, hätte ich meine Arbeit so nicht machen können.“
Wenn abends um acht in einer Kirchenvorstandssitzung eine Frage auftauchte, klingelte also bei Familie Breust das Telefon: „Können Sie mal eben rüberkommen?!“ Denn eigentlich waren alle heilfroh, dass es nun einen Sozialarbeiter gab, der unterstützen konnte, der fachliches Know-how mitbrachte. „Ich war sofort voll drin hier.“ Nirgendwo sonst im Norden des Landeskreises Gifhorn gab es damals eine psychosoziale Beratungsstelle, Unterstützung tat dringend not, sagt Sozialarbeiter Breust. Dass er Sozialarbeiter werden würde, wusste er schon früh. Und er wusste auch: „Ich wollte nicht Soziale Arbeit im luftleeren Raum machen, sondern in der Nachfolge Jesu Christi.“
Dort handeln, wo Hilfe nötig ist
Im Studium hat sich Frank Breust mit der Sozialberatung wenig befasst. „Ich war in der pädagogischen Arbeit fit, hatte mit Jugendlichen gearbeitet.“ Breust besucht Schulungen, kniet sich rein ins Bundessozialhilfegesetz – es war ein Sprung ins kalte Wasser. Fünf Jahre wollten er und seine Frau in Wittingen bleiben, das war ihre Prämisse. „Dass es so vielseitig wurde, habe ich nicht vorhergesehen.“ Der junge Sozialarbeiter initiiert Mutter-Kind-Kreise, denn es gab keine Kontaktgruppen, der Kindergarten war zu klein, Krippen gab es auch nicht, dafür reichlich Bedarf. „Deshalb habe ich angefangen mit der Elternarbeit.“ Keimzelle für die Familienfreizeiten, die Frank Breust ab 1988 für Wittingen und Umgebung anbieten wird. „Teilweise sind Menschen mitgekommen, die noch nie Urlaub gemacht hatten.“
Die Kinder, die damals mit ihren Müttern kamen, kommen heute mit ihren Kindern. Der Lohn unzähliger Jahre Kirchenkreissozialarbeit. „Ich hätte mir nie vorstellen können, dass wir hier 36 Jahre bleiben. Wahnsinn“, freut sich Frank Breust. Langweilig wurde ihm nie, weil immer wieder neue Bedarfe im Raum standen, auf die er reagieren konnte und durfte. Allgemeine Sozialberatung, Mutter-Kind-Gruppen, Angebote für Alleinerziehende, Arbeitslosentreff, Flüchtlingsarbeit, Beratung nach Sozialgesetzbuch – all das gehörte zu seinem Arbeitsfeld.
Einzelkämpfer im nördlichen Landkreis
Als 2005 Hartz IV eingeführt wird, schließen in der Fläche viele Sozialämter, die Zuständigkeit fällt an den Landkreis, noch weiter weg von den Menschen. Das war auch das Aus für ein Möbellager, das der Kirchenkreis Wittingen in Hankensbüttel betrieb, denn nun gab es keine Fördergelder mehr für solche Einrichtungen. Sollte doch mit dem Hartz-IV-Satz alles abgedeckt sein, was der Mensch zum Leben benötigt, Möbel, Waschmaschine und Kleidung eingeschlossen. Langzeitarbeitslose, die im Möbellager tätig waren, standen wieder auf der Straße, denn auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gehörten fortan der Vergangenheit an.
Als Sozialarbeiter im Hauptberuf war Breust in der Wittinger Ecke Einzelkämpfer, Netzwerke zu finden oder selbst zu schaffen gehörte auch zu seinen Aufgaben, so beim psychosozialen Arbeitskreis, in dem die 45 Einrichtungen der Sozialberatung im Landkreis Gifhorn vertreten sind. „Das ist für mich wichtig, denn ich muss wissen, was in Gifhorn läuft, was da beschlossen wird.“
Aufsuchende Sozialarbeit nötiger denn je
Der Gifhorner Nordkreis ist oft nicht im Fokus, läuft immer wieder Gefahr, vergessen zu werden. Wohnraum ist günstig, Menschen in der Grundsicherung ziehen von weither in die Region – mit vielen Kindern, ohne Auto, ohne Arbeit. „Der Landkreis hat jetzt darauf reagiert mit einem Sozialberatungshaus in Wittingen. Was wir hier aber außerdem brauchen, ist aufsuchende Sozialarbeit, deswegen machen meine Kolleginnen Imke Banse, Birgit Pilz und ich so viele Hausbesuche.“ Denn allein die Mobilität ist für sozialschwache Menschen hier ein Problem, nicht überall fahren Busse. Klient:innen aus Brome beispielsweise oder aus Steinhorst müssten theoretisch nach Wittingen kommen – ohne Auto ist das mehr schwierig, auch finanziell.
Die Menschen im Blick haben
Jede Kirchengemeinde im Nordkreis hat ehrenamtlich Diakoniebeauftragte. „Das sind meine Hör- und Sprachrohre in die Gemeinde, wir treffen uns regelmäßig und beraten, was wo gebraucht wird. Sie geben mir Bescheid, wer Hilfe benötigt.“ Der diakonische Blick in den Gemeinden sei unerlässlich für die Kirchenkreissozialarbeit, weiß Breust aus jahrzehntelanger Erfahrung. Er wünscht sich, das angehende Pastor:innen ein paar Wochen in der Sozialarbeit hospitieren, um Verständnis für diesen kirchlichen Arbeitsbereich zu entwickeln. „Wenn die Pastoren und Pastorinnen die Menschen, die unsere Hilfe benötigen, nicht auf dem Schirm haben, können wir nicht helfen!“ Ein Grund, weshalb Frank Breust seine Vorgesetzten, die Wittinger Superintendenten, auch zu Hausbesuchen mitgenommen hat.
Wer finanzielle Unterstützung brauchte, bekam es früher beim Kirchenamt direkt ausgezahlt – schnelle, unbürokratische Hilfe war möglich. Kurze Absprachen im Spittahaus, auf dem Weg zur Küche, auf der Treppe, das war der Alltag. Das hat sich, wie manches andere auch, verändert. So gab es vor Corona offene Sprechstunden, die Klient:innen standen Schlange. Offene Sprechstunden soll es nicht wieder geben, Termine nach Vereinbarung und eben aufsuchende Sozialarbeit.
Soziale Arbeit braucht Vertrauen
Nicht die finanzielle Hilfe steht für Frank Breust im Vordergrund, denn Geld allein helfe nicht weiter. Der Sozialarbeiter guckt nach rechtlichen Möglichkeiten. Allerdings: Rechtsberatung darf er nicht machen, das ist Sache der Anwälte. Und: Als Mitglied im Widerspruchsbeirat des Landkreises ist der Sozialarbeiter einer derjenigen, die eingereichte Widersprüche bearbeiten. Breust unterstützt die Klient:innen dabei, Termine beim Jobcenter, beim Ausländeramt oder beim Sozialamt zu buchen; in Einzelfällen begleitet er auch zu diesen Terminen. „Die Menschen kommen zu mir, weil sie Vertrauen haben. Manches Mal ist das für mich eine Gratwanderung. Ich bin dann als neutraler Beobachter dabei.“
Oft jahrzehntelang kommen die Menschen zu ihrem Sozialarbeiter. „Die Ingenieure aus Syrien, die Akademiker:innen aus aller Herren Länder, die nach Wittingen gekommen sind, sind bald wieder weg, die haben anderswo Arbeit gefunden.“ Bei anderen gelingt die Integration nicht. „Zu uns kommen Menschen, die überall rausgeflogen sind. Normale Mittelschicht, der arbeitslose Bäcker, die kommen alleine klar, die kommen nicht zu mir.“ Frank Breust arbeitet mit denen, die keinen Schulabschluss, keine Ausbildung haben, mit Alkoholproblemen kämpfen, im Knast saßen.
Im Hilfesuchenden Jesu sehen
Empathie braucht jede:r Sozialarbeiter:in mehr als alles andere. „Ich muss die Menschen mögen, sonst geht es nicht. Psychosoziale Beratung braucht gegenseitiges Vertrauen.“ Viel Leiden hat er erlebt, Schicksale, die ihn berührt haben. „Ich sage den Menschen nicht, was sie tun müssen, sondern zeige ihnen Wege auf, die sie gehen können.“ Denn die Lösung müsse immer zum Menschen passen. Sozialarbeit brauche einen klaren Standpunkt, sagt Breust. „Ich bin offen für jede:n, der kommt. Es sind alles Menschen und wenn sie die Kurve kriegen, ist alles gut.“ Wer Fachberatungen benötigt, beispielsweise mit Suchtthematiken, wird an Kolleg:innen anderer Träger weiterverwiesen. Denn spezialisieren kann sich einer wie Frank Breust nicht. Als Generalist auf dem Land wird er mit unterschiedlichsten Anliegen seiner Klient:innen konfrontiert.
Der Sozialarbeiter wohnt mitten in seinem Arbeitsumfeld, was er als Ruheständler machen will, lässt er auf sich zukommen. Ehrenamtliche Mitarbeit in der Kirchengemeinde sei eine Option. Mit dem Hund zum Mantrailen gehen, fotografieren, joggen oder wandern gehen sind andere Optionen. Dass einer, der sein Berufsleben lang Sozialarbeiter aus Berufung war, einfach so raus sein kann, ist schwer vorstellbar. Klamm heimlich macht sich Frank Breust davon – ohne offiziellen Abschied, ohne Bericht in der lokalen Presse. Möge ihn so manche:r in Wittingen einfach noch mal wie gewohnt ansprechen: Vor der Eisdiele, beim Hundespaziergang oder an der Supermarktkasse. Danke für 36 Jahre vollen Einsatz!
Kirchenkreisöffentlichkeitsarbeit / F. Josuweit