„Alle Geschöpfe sind Deine Geschwister“

20. Mai 2022

Winfried Gringmuth ist seit 1982 als Theologe im Kirchenkreis, genauer gesagt in Wolfsburg plus 20 Kilometer drumherum. Das, was wie Beständigkeit aussieht, ist bei genauerer Betrachtung ein Lebenslauf von unglaublicher Vielfalt. Gringmuth, der eigentlich Elektrotechniker werden wollte, hat unterschiedlichste Begabungen – und viele davon pflegt er seit Jahrzehnten. Zum 1. Juni geht der 65-Jährige in den Ruhestand.

 

Wer über Winfried Gringmuth schreiben will, muss sich entscheiden: Womit steige ich ein? Vielleicht mit den Fakten? Oder mit den Leidenschaften? Mit dem, was der Theologe seiner Kirche wünscht und weshalb er überhaupt auf die Idee kam, Theologie zu studieren? Denn eigentlich wollte er ja nicht mal Abitur machen. Weil seine Kumpels alle auf die Realschule gehen sollten, setzt er sich gegen Eltern und Lehrer durch und geht auch auf die Realschule. Es war nicht der richtige Platz für einen wie Winfried Gringmuth. „Nach zwei Jahren haben sie mich da rausgeschmissen.“ Das Motiv – mit anderen im guten Kontakt sein, bei seinen Kumpels bleiben – behält er bei. Gringmuth macht Abitur und hat den Studienplatz für Elektrotechnik in der Tasche. Vorher geht’s zum Wehrdienst, Mitte der 1970er ist das noch so. „Willst Du das wirklich, fragte ich mich. Eigentlich wollte ich nicht, denn ich stand nicht dahinter.“

Theologie - eine vollkommen fremde Welt

Sein Widerstand gegen die Einberufung ist erfolglos, Gringmuth wird eingezogen. „Ich war zu blöd, hatte mich nicht ausreichend vorbereitet und bin dann zweimal durchgefallen.“ Anfangs war es vergleichbar mit schlechtem Sportunterricht, ein System aus Befehlen und Gehorsam. Als es nicht mehr nur darum geht, auf Scheiben zu schießen, sondern auf Pappmenschen, kann er sich nicht mehr distanzieren. Der nicht mehr lösbare, innere Konflikt findet Gehör bei einem Militärseelsorger. Gringmuth fasst den Entschluss, sich mit diesen Fragen ernsthaft auseinander zu setzen und bewirbt sich auf ein Theologiestudium. Die Studienplatzzusage ist das Ausstiegsticket bei der Bundeswehr. „Das war eine unglaubliche Befreiung und ein Einstieg in eine für mich bis dahin vollkommen fremde Welt.“

Die technisch-naturwissenschaftliche Welt war ihm vertraut, heute gehören Glaube und Naturwissenschaft für ihn zusammen. „Der Glaube lebt in den Dingen, die die Naturwissenschaft beschreibt. Es gibt nur eine Welt!“ Fatale Konsequenzen habe die Trennung und die damit verbundene Lesart der Schöpfungsgeschichte über Jahrhunderte nach sich gezogen. „Der Mensch als Spitze der evolutionären Entwicklung ist eine Sackgasse.“ Wissenschaft relativiere dieses anthropozentrische Selbstbewusstsein. „Du kannst ja glauben, dass hinter physikalischen Konstanten ein göttliches Wollen steht, aber Dich an dessen Stelle setzen zu wollen, das ist doch eine Nummer zu groß.“ Nicht nur eine Nummer zu groß. „Wir sind alle völlig durchgedreht, Einsichten wären doch möglich – aber nichts passiert. Wir schaufeln am eigenen Grab.“

Der Theologe, der eigentlich Elektrotechniker werden wollte, kommt nach dem Studium als nach Westhagen. Sein Glück ist, dass die Gemeinde dort keinen liturgischen Gesang pflegt. „Ich erinnere mich mit Grauen daran, wie wir als 14jährige im Musikunterricht einzeln singen mussten und dafür benotet wurden.“ In einem Alter, in dem die Jungs immer zweistimmig singen. Erst Jahre später findet er Zugang zum Musizieren, und zwar über einen Posaunenchor. „Ab dem Zeitpunkt hat Musik eine große Rolle für mich gespielt.“ Anfangs mit gehörigem Respekt, bis im Theologiestudium ein Dozent sagt: ‚Sie können das. Sie müssen sich nur trauen.‘ Das Damoklesschwert wird kleiner, hängt aber noch am Himmel. Im Vikariat in Westhagen musste Gringmuth also nicht singen, aber in der nächsten Gemeinde?

Auf der Suche nach geistiger Verbundenheit

Gringmuth sucht Hilfe beim damaligen Kirchenkreiskantor Heiko Fischer. „Das hat Spaß gemacht, ich bin dabei geblieben.“ Posaune – gemeinsam mit anderen musizieren – und Gesang – Beziehungsgeschehen zwischen Musik und persönlicher Seele – begleiten ihn fortan. Mehr als drei Jahrzehnte ist er im Isenbütteler Posaunenchor. „Ich hatte quasi meinen zweiten Wohnsitz in Isenbüttel, es haben sich ganz viele, sehr persönliche Beziehungen entwickelt.“ Das ist es wieder: bei den Kumpels sein, mit anderen im guten Kontakt sein. Die Beziehungen innerhalb des Isenbütteler Posaunenchores sind für ihn „wie Familie“. Freundschaften, die bald 30 Jahre leben, gründen in diesem Chor. „Mein Posaunenchor ist kein sehr frommer, aber es gibt immer wieder Momente auch geistiger Verbundenheit.“

Eine Verbundenheit im Glauben, die Gringmuth sich und anderen Christinnen und Christen viel stärker wünscht. „Es müsste ein Wir-Gefühl entstehen, das selbstbewusst genug ist, auch selbst aktiv zu werden, etwas mitzugestalten, sich einzubringen.“ Nach wie vor sei es ein Tabu, über den eigenen Glauben zu reden. Andere Tabus seien längst passé, nicht aber dieses. „Du kannst ja heute über Sexualität in einer Weise reden, die noch für die Generation meiner Eltern schlicht undenkbar gewesen wäre. Über Glaubensinhalte kannst Du nach wie vor nicht reden. Es geht nicht.“ Geht uns das zu nahe? Rührt das so sehr an unserer Innerstes, dass wir alle mauern? An Kirchentagen gehe das, in der Gemeinde daheim hingegen nicht, meint Gringmuth. Auch kaum unter Berufs-Kirchlichen. „Man tauscht sich nicht aus, kommt nicht wirklich ins Gespräch und in Kontakt dabei. Das fehlt mir einfach.“

Plötzlich ging alles ganz schnell

Als Gringmuth von Westhagen ins Pfarramt nach Hehlingen geht und von dort fünf Jahre später nach Jembke ist das Thema‚bei den anderen bleiben, im Kontakt sein’ auch ein Motiv. „Wenn ich wer-weiß-wohin gehe, kenne ich überhaupt niemanden. Da bot sich der Wechsel nach Jembke an.“ Hier kommt mit den Jahren Routine im Pfarrdienst. „Wenn Ostern ist, kommt als Nächstes die Konfirmation, in Sommerferien holt man etwas Luft und dann beginnt der ganze Rest des Jahres.“

An die Beständigkeit heften sich Fragezeichen. Den Vorschlag, mal in Richtung Berufsschule zu schauen, fegt Gringmuth vom Tisch. „Nee, mit Schule war das damals schon nichts und jetzt das noch mal?“ Das Schuldezernat der Landeskirche bietet Fortbildungen an für Quereinsteiger, Gringmuth kommt ins Wanken, hospitiert an einer Gifhorner Berufsschule und plötzlich geht alles ganz schnell. Er wird Berufsschulpastor in Wolfsburg. „Beruflich gesehen war das meine schönste Zeit. Die jungen Menschen melden sofort zurück, was ihnen nicht gefällt. Und der Kontakt mit den Kolleg:innen war richtig gut.“ Wie zu Hause. Auch heute, nach 20 Jahren noch.

Von der BBS ging es mit halber Stelle wieder nach Westhagen, „ein Heimspiel quasi“. Die zweite halbe Stelle führt Gringmuth nach Hannover, in die damalige Internetabteilung im Landeskirchenamt, die einen Pastor sucht, der Internet und Technik kann. Perfekt für einen wie Winfried Gringmuth. Westhagen war befristet, nach zwei Jahren geht es im Hasenwinkel weiter, Hannover bleibt. „Die Fahrerei hat mir unterm Strich weniger ausgemacht, als ich gedacht hätte, ich fand die Zweiteilung eher bereichernd als erschwerend.“ Rund 5.000 Kilometer mit dem Faltrad kommen in den Jahren zusammen: von Vorsfelde zum Wolfsburger Bahnhof, in Hannover vom Hauptbahnhof in die Calenberger Neustadt.

Mensch mit vielen Begabungen

Zwei verschiedene Arbeitsfelder ermöglichen den Blick über den Gemeinde-Tellerrand. Gemeindliche Engführung und die Parochie sind für Gringmuth kein Zukunftsmodell, stattdessen brauche es Vernetzung mit anderen, Begeisterung für christliches Leben, Handeln und Denken – im Alltag, vor Ort, in den eigenen Bezügen. „Ich wünsche mir mehr christlich-gemeinschaftliches Selbstbewusstsein für meine Kirche.“

Engführung ist auch für Gringmuths persönliche Interessen undenkbar. „Ich koche gern und backe unser Brot selbst.“ Gemüse und Kräuter dazu wachsen in Garten und Gewächshaus. Die Reste eines alten Backhauses aus Jembke schlummern noch im Schuppen. „Das würde ich liebend gern wieder aufbauen.“ Und die Nähmaschine soll wieder zum Einsatz kommen. Nähmaschine? „Ich schneidere doch. Ich nähe nicht nur Laptoptaschen.“ Winfried Gringmuth überrascht immer wieder. Nicht nur seine Kinder hat er – in einem Alter, als die das noch zuließen – benäht, auch sich selbst hat er einen maßgeschneiderten Anzug gefertigt. „Das würde ich nie wieder tun, das ist ein Riesenaufstand.“ In Kartons verpackt hofft auch die Garteneisenbahn auf Beachtung und Einsatz. Und sonst? „In Hehlingen habe ich mit Menschen aus der Gemeinde intensivst getöpfert, das ruht seither auch. Langeweile wird also nicht ausbrechen, das ist völlig klar.“

Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis / Frauke Josuweit

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Über Winfried Gringmuth

Winfried Gringmuth wuchs ins Holzminden auf. Nach dem Wehrdienst studierte der 1956 Geborene Theologie in Bethel, Erlangen und Göttingen. Als Vikar kam er im März 1982 nach Westhagen und war ab 1984 Pastor in Hehlingen. Von 1989 bis 2003 leitete Winfried Gringmuth die St. Georg-Gemeinde in Jembke. Siebeneinhalb Jahre als Berufsschulpastor in Wolfsburg folgten, seit August 2010 war Gringmuth mit halber Stelle in der Evangelischen Medienarbeit der Landeskirche in Hannover tätig und mit halber Stelle als Pastor zunächst in Westhagen und ab März 2013 im Hasenwinkel. Der Theologe war Mitglied im Kirchenkreisvorstand, Beauftragter des Kirchenkreises für Weltanschauungsfragen und Obmann für den Kreisposaunenverband Gifhorn-Wolfsburg.