Mit 230 km/h in ein neues Leben

23. Februar 2022

Ein Leben mit permanenten körperlichen und seelischen Schmerzen – das ist das, was Leyla, einer jungen Frau aus Somalia, vertraut ist. Ihr Leben in Deutschland ändert daran zunächst nichts. Alexandra Fastnacht, Flüchtlingssozialarbeiterin im Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen, begleitet die 34jährige seit 2017.

 

Leyla ist für Sie die mutigste Frau 2021. Weshalb?

Leyla hat ein neues Leben begonnen. Nicht nur, weil sie von Somalia nach Deutschland zurücklassen musste, um sich selbst zu retten. Sie hat sich mit einem großen Schritt gegen ihre Herkunftskultur gestellt, denn als kleines Mädchen wurde sie beschnitten. Zu Gunsten der Tradition hat man ihr nach dem Ritual der Genitalverstümmelung alle äußerlichen Geschlechtsteile mit geschmolzenem Baumharz verätzt und verschlossen. Massive körperliche Schmerzen gehören seitdem zu ihrem Alltag, also beispielsweise stundenlanges Verharren auf der Toilette, um die Blase zu entleeren. Sie ist ständig müde und ohne Energie. Ein täglicher Kampf unter physischen und psychischen Schmerzen ist das.

Ein neues Leben beginnen in Deutschland, das hört sich so einfach an. Wie sieht der Weg dorthin aus?

Sehr steinig. Bei deutschen Mitbürger:innen ist das Verständnis für genitalverstümmelte Frauen, die ja zusätzlich auch noch stark traumatisiert sind, nicht überall gegeben. Fast fünf Jahre sind vergangen, seit ich diese junge Frau in der Flüchtlingsunterkunft kennengelernt habe: Farbenfroh gekleidet, verschüchtert, immer im Schatten anderer Frauen, sie traute sich kaum, ihren Kopf zu heben. Sie wirkt in dieser fremden Kultur hier völlig verloren. Unzählige Gespräche haben wir im Laufe der Jahre geführt, ich habe Hausbesuche gemacht, ihre Alltagssorgen geteilt, sie im Kampf gegen die deutsche Bürokratie unterstützt – und was am wichtigsten war und ist: Vertrauen aufgebaut. Unzählige Beratungstermine konnte Leyla nicht wahrnehmen. Weshalb? Weil ihre Schmerzen es nicht zuließen.

Seit 2013 gibt es in Berlin Hilfe. Die Klinik Waldfriede ermöglicht eine chirurgische Wiederherstellung für Frauen auch ohne Krankenversicherung. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Frauen dort Hilfe erhalten?

Ganz ohne Geld geht es nicht, das ist mal das Erste. Dieses Geld konnten wir dank einer Spende von VW-Mitarbeitenden aus Shanghai ohne große bürokratische Hürden aufbringen. Es braucht auch ärztliche Unterstützung am Wohnort. Wie oft erfahren die Frauen dort Verunsicherung: „Warum wollen sie das angehen, sie leben doch so viele Jahre damit?“ Da bleibt nur der Arztwechsel, auch das ist eine ziemliche Hürde. Den größten Schritt müssen aber die Frauen selbst tun, denn sie stellen sich mit der Entscheidung für eine genitalrekonstruierende Operation gegen ihre eigene Kultur. Leyla kam eines Tages zu mir und sagte: „Frau Alexandra ich möchte machen Operation! Sie helfen?“

Und nach der Operation?

Es gibt Momente, da lasse ich meine beraterische Distanz sausen. Ich habe Leyla in Wolfsburg am Bahnhof abgeholt, als sie aus Berlin kam, aus der Klinik Waldfriede. Plötzlich sehe ich sie in ihren farbenfrohen Kleidern den Bahnsteig entlanggehen. Die mutigste Frau des Jahres 2021 – ich bin total erleichtert und lasse meinen Tränen freien Lauf!
Was kann ein Mensch ertragen? Kurz vor der Abreise nach Berlin erreichte Leyla die Nachricht, dass ihre 16jährige Tochter, die in Somalia bleiben musste, beschnitten wurde. Es war nicht zu verhindern. Für Leyla hat ein neues Leben begonnen, auch wenn die alten Wunden bleiben. Und doch ist da endlich Glanz in ihren Augen. Neue Kraft und neuer Mut für ein selbstbestimmtes Leben!

Das Gespräch dokumentierte Frauke Josuweit / Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis

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Fluchtgründe

Mehr als drei Jahrzehnte humanitäre Krise zeichnen das Land im Osten Afrikas: Clankämpfe, Hunger, Dürre und Not herrschen dort. Allein innerhalb Somalias sind nach Angaben der UNO-Flüchtlingshilfe 2,95 Millionen Menschen auf der Suche nach Heimat, davon sind mehr als 65 Prozent Kinder.

Ihre Spende hilfe

Wenn Sie die Arbeit mit geflüchteten Frauen im Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen unterstützen möchten, freuen wir uns.
Sparkasse Gifhorn-Wolfsburg
IBAN DE88 2695 1311 0011 0000 49  
Stichwort: „Hilfe für geflüchtete Frauen“

Alexandra Fastnacht
Flüchtlingshilfe Alexandra Fastnacht
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Mobil: 0175 650 72 26