Lobe den Herrn!

Nachricht 08. Dezember 2022
Foto: privat

Nordstadtpastor Ulrich Probst geht in den Ruhestand

Die Jungs verbeugten sich, die Mädchen machten einen Knicks: „Konfa war schrecklich antiquiert. Eine Auswendiglernschule“, erinnert sich Ulli Probst an seine Jugendkirchzeit auf dem Dorf. Der 64Jährige ist trotzdem Pastor geworden, seit 1987 arbeitet er in Wolfsburg, davon 27 Jahre in der Nordstadt. „Das hat gut gepasst. Sonst wäre ich nicht so lange geblieben.“

13 Jahre ist der Krieg vorbei, die Bewegung für atomare Abrüstung erstarkt weltweit, die Weltwirtschaft erlebt die erste Nachkriegsrezession, Deutschlands Wirtschaftswunder wird davon kaum tangiert. In Sehlem, bewohnt von wenigen hundert Seelen, kommt ein neuer Mensch zur Welt: Ulrich Probst. Kalibergbau und Landwirtschaft prägten damals die Gegend, wer Bauer war, war irgendwann einmal in seinem Leben auch im Kirchenvorstand. „Ich kannte nur den Pastor, das war das Bodenpersonal, andere sind mir nicht aufgefallen“, sagt Ulrich Probst, Sohn eines Kirchenvorstehers. Doch die Zeit blieb auch im Hildesheimer Land nicht stehen, es kam Erneuerung und der Aktionsradius des Bauernjungen erweitert sich. Filme, Gitarren und Jugendfreizeiten tauchten gemeinsam mit einem Diakon auf, der Jugendliche im Umkreis von etwa 20 Kilometern zusammenbrachte.

Kirche, Feuerwehr und Fußballverein

Es entwickelt sich bei Hildesheim – und nicht nur dort – eine kirchliche Arbeit mit jungen Menschen, die anders war als vorher. „Das Programm war super!“ Jugendfreizeiten in den Sommerferien im fernen Frankenland, Aktionsprogramme, viel Musik. Und: Es wird den Jugendlichen etwas zugetraut. Auswendiglernen war gestern, Ulli Probst soll Andachten selbst gestalten. „Ich hatte ganz schön Lampenfieber“, sagt der Junge, der immer einen guten Spruch drauf hat, der sich Sprüche zurechtlegte, falls ihm mal jemand komisch kommt. „Wir hatten von Tuten und Blasen nicht so viel Ahnung, aber es war ein richtig gutes Gefühl, sich da hinzustellen.“ Sie haben sich getraut, erreichen ziemlich Viele, mehr sogar als Feuerwehr und Fußballverein. Kaum vorstellbar im heutigen Meer der Möglichkeiten. „Man konnte sich offen begegnen und Menschen, also Mädchen, kennenlernen.“ Und: Es gab eine eigene Band. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit übt Ulli Probst Schlagzeug auf den Knien.

Kirche und Schule, zwei Institutionen, die bis dahin nicht unbedingt für Liberalität bekannt waren, auch nicht dafür, dass es ihnen gelang, junge Menschen zu begeistern, prägen nicht nur Ulli Probst, sondern mit ihm viele junge Menschen in seiner Umgebung und auch anderswo. „Engagierte junge Lehrinnen und Lehrer und ein engagierter Diakon lassen Berufswünsche sprießen: Lehrer oder Pastor. Mit seinem besten Freund zieht er nach Göttingen, um zu studieren. „Wir waren nicht die Einzigen, es gab bei uns in der evangelischen Jugend über die Jahre etwa 20 Leute, die angefangen haben, Theologie zu studieren, aus meinem Ort allein fünf.“

Pastor – das war noch nicht dran

Das theologische Examen abgelegt hat von den fünfen nur Ulli Probst und der war zu dem Zeitpunkt bereits Vater. Die letzten zwei Jahre ist er nach Göttingen zur Uni gependelt, WG und lockeres Studentenleben Adieu. Mit Mitte zwanzig erwachsen und Familienvater. Die Rolle, als Pastor im Mittelpunkt der Gemeinde zu stehen, war aber für ihn noch nicht dran. Es bot sich zum Ende des Studiums eine verlockende, ganz neue Alternative – das Berufsschulvikariat.

Ulli Probst sagt heute von sich: „Ich lasse die Dinge gern auf mich zukommen. Es wird das Passende kommen, da wird was am Wegesrand liegen.“ Und das Passende wartet bereits auf ihn, als er nach Berufsschul- und Gemeindevikariat im Landeskirchenamt vorstellig wird, „in den heiligen Hallen bei Oberlandeskirchenrat Uhlhorn, der uns erklärt hat, wohin wir gehen werden“. Es ging nach Wolfsburg an die berufsbildenden Schulen. Ein interessantes Angebot für den jungen Theologen, besonders in der Zusammenarbeit mit dem Team der Arche und mit Berufsschulpastor-Kollege Horst-Ulrich Braun. „Zu ihm und seiner Frau konnte man immer kommen, da konnte man sich immer an den Tisch setzen.“

In der Arche, DEM Forum damals in Wolfsburg für gesellschaftliche Fragen, von der Nachrüstung bis hin zum aufkommenden Thema Okkultismus, hebt Ulli Probst zunächst den Azubi-Treff mit aus der Taufe. Vorbei die Zeit, dass er Schlagzeug auf den Knien übt, längst besitzt er selbst eines und spielt in einer Band. Eines seiner Herzensprojekte ist, Rockkonzerte in der Kirche zu organisieren. 

“Lass Dich nicht verbraten!“

„Im Kirchsaal am Freitagabend wollten wir das machen, wir wollten alles umbauen, nur die Orgel sollte stehen bleiben.“ Das war zu viel. Selbst für die krisenerprobte Diakonin. Schlussendlich ging es doch an. „Horst-Ulrich hat sich für mich verbürgt, dass nichts passiert.“

Die Bude, also die Kirche, war rappelvoll: 250 Rockfans folgen der Einladung in den Kirchsaal. „Man muss Bock drauf haben, so was zu machen. Ich habe mir keinen Kopf gemacht, ob ich das überhaupt hinkriege. Ich habe es einfach gemacht.“ Sich nicht verbraten lassen, sich nicht verbiegen lassen, und schon gar nicht für Dinge, die nicht relevant sind – das ist Probst’s Devise. „Setz‘ Deine Energie da ein, wo es Dir und der Gemeinschaft guttut. Dort, wo es alle weiterbringt und Gemeinschaft stärkt. Dann kannst Du was bewirken und zusammen mit anderen daraus Kraft schöpfen!“

Experimentierfreudige Kirche

In Wolfsburg ging ganz viel. Der Kirchenkreis stand in dem Ruf, besonders links orientiert zu sein. „Die Kolleginnen und Kollegen hatten erfrischend neue Ideen von Kirche und waren experimentierfreudig. Das war super!“ Probst engagiert sich als Berufsschulpastor für ein internationales Jugendbegegnungsprogramm, gemeinsam mit Gisela Abel, einer Wolfsburger Legende, die sich über Jahrzehnte für die Aufarbeitung der NS-Zeit in Wolfsburg und für Völkerverständigung einsetzte. Die Kleinstadt Kalavryta im Norden der griechischen Halbinsel Peloponnes, idyllisch in den Bergen gelegen und doch ein geschichtsträchtiger Ort – hier machen der Pastor und die Trägerin des bundesdeutschen Verdienstkreuzes am Bande fast zwanzig Jahre Versöhnungsarbeit.

Kalavryta und weitere Orte in der Umgebung hatten deutsche Soldaten im Dezember 1943 dem Erdboden gleichgemacht, Männer und Jungen ab 12 Jahren hingerichtet, Frauen und Kinder nach Brandschatzung und Plünderung sich selbst überlassen. Jedes Jahr von 1988 bis 2006 fährt Probst mit rund 25 Jugendlichen nach Kalavryta, wo sie gemeinsam mit griechischen Schüler:innen in einem Internat leben, Gedenkstätte und Spielplätze im Ort instand setzen, im kirchlichen Altersheim singen. Im Jahr 2001 kommt auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau eine Gruppe Jugendlicher aus Kalavryta nach Wolfsburg und nach Berlin.

Viel zu früh ist Schluss mit der Arbeit als Berufsschulpastor. Was als Frage um die Ecke kommt – „Wie lange wollen Sie das noch machen?“ - ist eine klare Anweisung. „Ich wusste: Die Reise geht woanders hin. Aber keiner von uns wollte aus Wolfsburg weg, meine Frau nicht, meine Kinder nicht, ich auch nicht.“ Es fügt sich glücklich, wieder liegt das Passende am Wegesrand. „Du machst Dir ‘n Kopf und Sorgen und dann wird es doch gut.“

Gemeinschaft wird groß geschrieben

Der berufsjugendliche Pastor, der von 1988 bis 2016 auch Kirchenkreisjugendpastor war, wird 1995 Gemeindepastor in der Wolfsburger Nordstadt in der St. Thomas-Gemeinde im verbundenen Pfarramt mit der St. Marien-Gemeinde. Die Gemeinde ist lebendig, das Ehrenamt stark, gemeindlichen Angebote werden sehr gut besucht. Gemeinschaft wird intensiv miteinander und auch mit anderen gelebt. Jährliche Gemeindefahrten mit großen Reisegruppen gehören genauso dazu wie die gelebte ökumenische Geschwisterlichkeit mit der St. Bernward-Gemeinde.

„Wenn Du zum Abendmahl kommst, schicke ich Dich nicht weg. Das war die Haltung meines katholischen Kollegen mir gegenüber, so vertraut haben wir miteinander gearbeitet.“ Weltgebetstag der Frauen, ökumenische Ausflüge, ökumenischer St. Martins-Umzug mit 500 Menschen, Pferd aus dem Reitverein, Blaskapelle am Schloss, Feuerfackeln und Polizeischutz bis hin zum Kanzeltausch. Frauenordination als katholisches Streitthema hin oder her - es ist überhaupt keine Frage, dass Dechant Thomas Hoffmann und Pastorin Uta Heine ganz selbstverständlich auch die Kanzel tauschen.

Feuerprobe auf der Gemeindewiese

Wehmut gehört genauso zu Abschied und Veränderung wie Erinnerung an Besonderes. Und dazu gehört sicher die Feuertaufe, die der junge Pastor, immerhin schon Vater von drei Kindern, 1995 bestehen musste. Zu seiner Einführung an einem heißen Sommertag war die Gemeindewiese gut besucht. Ulli Probst wird schlagartig klar: Die vielen Kinder haben Wasserbomben in der Hand. Er gibt Hackengas, schlägt Haken, trickst die Bomberleger:innen aus. „Irgendwann hatten die ihre Munition verschossen und mich kein einziges Mal getroffen.“ Probst ist angekommen und angenommen in seiner Gemeinde.

27 Jahre ist das her. „Das hat gepasst. Sonst wäre ich nicht so lange geblieben.“ Vieles ließe sich noch erzählen, aus der Kindergartenarbeit, von den Bandprojekten, vom Hagelsturm im Pfarrhaus, vom Mehrgenerationenhaus und dem Runden Tisch Nordstadt, von Taufen, Trauungen und Beerdigungen. Doch jetzt ist erstmal Zeit für die Familie und seine Musik. Ein neues Domizil ist gefunden, Ulli Probst und seine Frau bleiben in Wolfsburg, drei Kinder und fünf Enkelkinder leben im Umkreis. Spannend wird, wie die neuen Nachbarn reagieren. Denn anders als im Pfarrhaus lebt der Jungruheständler nun Wand an Wand mit anderen Menschen, die nicht zu seiner Familie gehören. „Bei der Musik, die ich mit meiner Band mache, muss ich ständig auf Dinge draufhauen, die bei einem elektronischen Schlagzeug nicht funktionieren. Mal schauen, was die Nachbarn dazu sagen werden.“

Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis / Frauke Josuweit

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