Nur mit gesenktem Kopf geht sie durchs Dorf, sie will nicht die Verachtung in den Augen der anderen sehen müssen. Seit Jahren sieht sie nichts als Füße, die möglichst schnell an ihr vorbeieilen, die wegtreten, was ihnen im Weg liegt.
Wir erfahren fast nichts über diese Frau, nicht einmal ihren Namen. Wir wissen nicht, woher sie kommt und wohin sie geht, wir wissen weder, woher sie ihren Ruf als Sünderin hat, noch, was Jesus meint, wenn er sagt: „sie hat viel geliebt“. Aber wir sind dabei, als sie sich auf die Füße Jesu stürzt. Wir ahnen, dass sie nichts zu verlieren hat, schon gar nicht einen guten Ruf, und dass sie alle Hoffnung, die sie aufbringen kann, in diesen Kniefall hineinwirft.
Diese Füße - Sie haben wie alle Füße Staub und Dreck gespürt, aber sie haben den Schmutz nicht gemieden, sind nicht vorbeigeeilt. Jesu Füße - sie kennen die Stolpersteine und Fallgruben des Lebens, und sie haben sie ausgehalten, sind nicht darin stecken geblieben, sind sich des Weges in die Zukunft sicher.
Diese Füße, sie sind die einzige Hoffnung der Frau, und deshalb klammert sie sich an ihnen fest, lässt den Damm der angestauten Verzweiflung und Verletzungen über ihnen brechen.
Sie wäscht sie mit ihren Tränen und weint über sich selbst, die salbt sie mit kostbarem Öl und umgibt sie damit mit ihrer ganzen Hoffnung. Dann möchte sie diese Füße abtrocknen und findet kein anderes Handtuch als ihre Haare – so sehr hat sie sich selbst vergessen.
Die Frau ist ganz hingegeben, und in diese Hingabe hinein empfängt sie das, wonach sie sich am meisten sehnt. Sie spürt, dass endlich einer sich zu ihr hinwendet, ohne sie in die Schublade der Verurteilten zu stecken. Und in dem Moment, da dieser eine sie sieht, verliert die bittere Rolle, die andere ihr zuschreiben, ihre Bedeutung.
Sie spürt, dass in diesem Blick die Schatten der Vergangenheit gebrochen sind, dass der Schuld, die sie auf sich geladen hat, die Macht über ihre Zukunft genommen wird. Das ist Vergebung.
Wie es wohl mit ihr weitergegangen ist? Leicht möglich, dass sie ihr bisheriges Umfeld verlassen und woanders ganz neu angefangen hat. Leicht möglich auch, dass sie geblieben ist. Und unter ihrem veränderten Blick änderten sich allmählich, ganz allmählich auch die Blicke, die auf sie gerichtet waren.
Helmut Kramer ist Pastor in den verbundenen Kirchengemeinden Brome-Tülau und Ehra
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